Gatekeeper und ihre gewandelte Funktion

Warum heute Persönlichkeiten über Erfolg und Misserfolg entscheiden – und nicht Institutionen

Wörtlich übersetzt bedeutet Gatekeeper „Türsteher“. Der Türsteher einer Diskothek ist vom Typ her breitschultrig, eher kahlköpfig und er trägt eine dicke Goldkette. Vor allem aber ist er derjenige, der entscheidet, wer in den Club eingelassen wird und wer nicht. Seiner Bedeutung ist er sich durchaus bewusst und er genießt es, wenn ihn die Wartenden umgarnen.
Auch in der Gesellschaft gibt es Gatekeeper. In der Soziologie wird derjenige als Gatekeeper bezeichnet, der eine wichtige Position in einem Prozess der Entscheidungsfindung einnimmt. Diesen Begriff hat der amerikanische Sozialpsychologe Kurt Lewin geprägt. Er untersuchte, wer in einer Familie über den Umgang mit Lebensmitteln entscheidet, und fand heraus: Die Hausfrau bestimmt, was gegessen wird. Was ihr nicht schmeckt, kommt nicht auf den Tisch. Sie ist diejenige, die einkauft und kocht – und die damit die Hoheit über die Verwendung von Lebensmitteln hat.
1950 hat David Manning White den Begriff auf die Journalismusforschung übertragen. Als Gatekeeper werden Menschen bezeichnet, die in den Massenmedien eine Position ausüben, in der sie über die Verbreitung oder Nicht-Verbreitung bestimmter Informationen entscheiden können. Im Zeitungsgewerbe sind das in der Regel die Chefredakteure, im Rundfunk die Intendanten, im Fernsehen die Programmmacher. Was diese Menschen nicht veröffentlichen wollen, erfährt der Leser nicht.
Gatekeeper kontrollieren also den Zugang zu Gruppen oder zu Nachrichten. Es sind Schlüsselpersonen, die durch ihre Funktion oder ihren Status Macht ausüben. Dabei ist wissenschaftlich nachgewiesen, dass die persönlichen Vorlieben und Abneigungen, die Interessen und Einstellungen der Gatekeeper Einfluss darauf haben, welche Informationen diese auswählen. Und es ist egal, ob ihnen diese Einstellungen bewusst sind oder sie unbewusst vorhanden sind.
Ein Unternehmen, das Erfolg haben will, tut gut daran, sich mit seinen Informationen an diese Gatekeeper zu wenden, denn sie sind wichtige Multiplikatoren. Was die Gatekeeper interessiert, wird die Öffentlichkeit erreichen. Und umgekehrt: Ein Produkt oder Unternehmen, das nicht das Interesse der Gatekeeper weckt, wird es schwer haben, die Öffentlichkeit anzusprechen.

Polarisierung der Gatekeeper-Funktion

Die Zahl der Gatekeeper bleibt nicht gleich. Mit der Einstellung oder Fusion zahlreicher Tageszeitungen wird zum Beispiel die Zahl der Chefredakteure immer kleiner. Die zehn größten Verlagsgruppen Deutschlands dominieren heute den Markt mit ihren Printprodukten. Sie erreichen zusammen einen Anteil von 58,1 Prozent an der verkauften Auflage von Tageszeitungen in Deutschland. Einige wenige haben also das Zepter in der Hand.
Doch momentan erleben wir eine widersprüchliche Entwicklung: Zum einen werden einzelne Gatekeeper immer wichtiger, zum anderen übernehmen Blogger die Funktion von Gatekeepern. Die sogenannten A-Blogger haben sich praktisch bereits zu Gatekeepern entwickelt. Sie haben mindestens zehn bis 100 mal höhere Zugriffszahlen auf ihre Texte als andere Blogger. Die Themen, die sie aufgreifen, werden nicht nur stärker diskutiert als die der anderen Blogs. Sie landen mit ihnen oftmals sogar in den bekanntesten deutschen Printmedien.
Jeder Privatmensch kann mit seinem Handy einen kleinen Film drehen und ins Internet stellen. Das nennt sich Bürgerjournalismus. Jeder Bürger kann an den großen Medien vorbei Informationen veröffentlichen. Oft werden sie gar nicht beachtet. Aber manchmal erreichen diese Nachrichten Hunderttausende von Interessenten.
Kleine Tageszeitungen übernehmen inzwischen ihren Mantelteil, also den Teil mit den überregionalen Nachrichten, von großen Blättern. Damit verlieren die Chefredakteure der Regionalzeitungen einen Teil ihres Einflusses. Auch im Buchmarkt findet Ähnliches statt: Während einige wenige Autoren mit ihren Werken immer wieder die Bestsellerlisten anführen, wird die große Mehrheit der Autoren kaum wahrgenommen.
Diese Polarisierung findet nicht nur in den Medien statt, sondern auch in anderen Bereichen der Gesellschaft. So entscheiden die Chefs der zehn größten Lebensmittelkonzerne weltweit, was die Mehrheit der Weltbevölkerung isst. Denn sie bestimmen das Sortiment der Supermärkte. Seitdem ist das Zeitalter der Fertiggerichte angebrochen. Gleichzeitig bloggen aber immer mehr Feinschmecker im Internet über leckeres, gesundes oder naturbelassenes Essen.
In diesem Prozess der Polarisierung verliert die Mittelschicht deutlich an Einfluss. Wer erfolgreich in der Wirtschaft sein will, muss diese Entwicklungen aufmerksam beobachten – und rechtzeitig reagieren.

Was macht den Gatekeeper aus?

Früher hatten Gatekeeper bestimmte Funktionen inne. Der Hausarzt kontrollierte den Zugang zum Facharzt, die Sekretärin den Kontakt zum Chef und der Einkäufer bestimmte, was ins Programm aufgenommen wird. Diese Funktionen haben heute an Macht verloren: Lästige Zwischenhändler sind nicht mehr gefragt. Dank Internet kann jeder herausfinden, welcher Facharzt für ihn zuständig ist. Dank Mail kann jeder den Chef selbst ansprechen, ohne die Sekretärin zu fragen.
Heute werden Menschen nicht mehr durch ihre Funktion, sondern dank ihrer Persönlichkeit oder ihres sozialen Status zu Gatekeepern. Wenn der Schweizer Tennisstar Roger Federer einen Schläger empfiehlt, wird dieser Schläger zum Bestseller. Denn die Käufer wollen damit ein kleines bisschen an dem Erfolg des Profis teilhaben, der als einziger Spieler dreimal in seiner Karriere drei Grand-Slam-Titel in einer Saison gewinnen konnte.
Dass Institutionen ihre Macht als Gatekeeper an Persönlichkeiten abgeben, ist kein Zufall. Die Macht von Institutionen hat ganz allgemein nachgelassen. Deshalb wird kein Manager heutzutage mehr versuchen, auf seinen Führungsanspruch allein durch seine Position zu beharren. Vielmehr gilt die Maxime: Führen durch Persönlichkeit.

Google als Gatekeeper

Drei Viertel der Internetnutzer weltweit erschließen neue Angebote über Suchmaschinen. In Deutschland verwenden fast 85 Prozent der User Suchmaschinen und Web-Kataloge, um Informationen zu finden. Und die Zahl der Suchanfragen, die in das World Wide Web eingegeben werden, steigt an.
Dabei ist Google unübertroffen: In den USA hält die Suchmaschine einen Marktanteil von 60 Prozent, in den meisten europäischen Ländern sogar noch ein bisschen mehr. Yahoo und Bing rangieren unter ferner liefen. Wer nicht per Google zu finden ist, wird schlicht nicht wahrgenommen. Deshalb hat im Internet Google die Funktion des Gatekeepers übernommen.
Um gefunden zu werden, reicht es nicht einmal mehr, irgendwo bei Google gelistet zu werden. Untersuchungen zeigen, dass nur wenige User mehr als die ersten drei Suchergebnisse anklicken. Das bedeutet: Wer nicht auf der ersten Treffer-Seite rangiert, wird meist übersehen. Wie erreicht man eine Platzierung unter den ersten drei Suchergebnissen? Dazu muss Google etwas geboten werden, nämlich Content. Denn es ist der Content, also der Inhalt einer Seite, den der Google-Suchlogarithmus bewertet.
Google hat die Funktion, relevante Informationen zu bieten. Und „relevant“ ist in der Ära des Web 2.0 fast sinngleich mit „aktuell“. Ändert sich also der Content einer Internetseite häufig, rutscht die Seite in den Suchergebnissen nach oben.
Wer bei Google ganz vorne stehen will, muss relevante Informationen liefern – so einfach ist das. Ein ganzer Geschäftszweig beschäftigt sich seither mit der Optimierung von Webseiten, um sie in den Suchmaschinen, insbesondere bei Google, hoch oben auf den Ergebnisseiten zu platzieren. Bestechung jedoch funktioniert nicht. Es sind ja keine Menschen, die das Internet durchsuchen, sondern automatische Programme.
Um die Gatekeeper als Multiplikatoren zu nutzen, müssen die User sie erst identifizieren. Wenn ich mit 1000 potentiellen Kunden in einem Raum bin und wissen möchte, wer der Multiplikator ist, muss ich herausfinden, an wem sich die Menschen orientieren. Das ist dann der Gatekeeper, dessen Aufmerksamkeit ich auf mich ziehen muss.
Der Gatekeeper kann für jede Gruppe von Kunden eine andere Person sein. Wer für die einen als Gatekeeper fungiert, ist für die anderen vielleicht völlig uninteressant. Wenn etwa Franz Beckenbauer für das Getränk Red Bull werben würde, würde das nicht funktionieren, weil Beckenbauer für Red Bull-Trinker kein Vorbild ist. Er gehört einer anderen Generation an als die typischen Käufer des Energy Drinks. Nicht zufällig sponsort Red Bull vor allem Funsportarten und organisiert sogar ein Event für extremes Snowboarding. Hier sind diejenigen unterwegs, die das Getränk wirklich kaufen.
Red Bull enthält neben Koffein auch Taurin und Glukuronolakton – Substanzen, die den Stoffwechsel anregen. Nun hat der Getränkehersteller aber das Gerücht in die Welt gesetzt, dass Red Bull weitere Substanzen enthält oder sogar in manchen Ländern illegal ist. Dies entspricht zwar nicht der Realität, hat aber ein Markenimage geschaffen, das vor allem junge Menschen anspricht. Auch deshalb gilt der Konsum von Red Bull in gewissen Kreisen als „cool“. Das Vorgehen von Red Bull zeigt den intelligenten Einsatz von Marketinginstrumenten. Ein Gatekeeper im Stil von Franz Beckenbauer wäre in diesem Umfeld völlig fehl am Platz.

Wieso Provisionen wenig nützen

Um die Gatekeeper zu erreichen, wird oftmals vorgeschlagen, zu Provisionen zu greifen. Dies funktioniert jedoch nur begrenzt. Angenommen, eine Frau geht zu einem Schönheitschirurgen und lässt sich operieren. Der Chirurg bietet ihr eine Provision, wenn sie ihn weiterempfiehlt. Nun gibt es zwei Möglichkeiten: Die Frau wurde an einer intimen Stelle operiert und möchte daher über den Eingriff am liebsten gar nicht reden. Da mag die Provision noch so hoch sein – sie wird den Chirurgen nicht weiterempfehlen.
Nehmen wir aber an, der Frau wurde ein Muttermal im Gesicht entfernt. Jeder Bekannte, den sie nach der OP trifft, gratuliert ihr zu dem Mut, den entstellenden Leberfleck beseitigen zu lassen. In diesem Fall ist sie wahrscheinlich gern bereit, den Chirurgen weiter zu empfehlen. Denn sie erweist nicht nur ihrem Arzt einen Dienst, sondern profiliert sich auch selbst: „Ich habe mich gut informiert und bin daher zu Chirurg xy gegangen. Mit dem Ergebnis bin ich mehr als zufrieden und kann ihn gerne weiterempfehlen. Wenn du willst, stelle ich einen Kontakt her.“ In diesem Fall ist die Provision lediglich ein nettes Zubrot. Im Zweifel würde die Patientin den Chirurgen auch ohne die Provision empfehlen.
Der Einsatz von Provisionen ist also im ersten Fall nicht sinnvoll und im zweiten Fall nicht notwendig. Deshalb ist es überflüssig, Gatekeeper zu bestechen, um wahrgenommen zu werden. Viel wirkungsvoller ist es, Gatekeepern das zu liefern, was sie benötigen, um ihre Funktion auszuüben. Genau wie ein Türsteher wollen auch sie ein wenig umgarnt werden. Sie haben die Macht, ein Gut künstlich zu verknappen, etwa den Zugang zu einem Business-Treffen. Und es tut ihnen einfach gut, sich in ihrer Funktion wahrgenommen zu fühlen. Wer eine gute und stabile Beziehung zu einem Gatekeeper pflegt, dem öffnet sich automatisch der Zugang zu vielen neuen Kunden.

Gatekeeper trifft PreSales Marketing

Verbraucher müssen heute aus einer Vielzahl von Informationen auswählen. Wer bei Google nach einem Begriff sucht, erhält eine Million Ergebnisse – und ist damit noch keinen Schritt weiter gekommen. Im Gegenteil, die unendliche Trefferliste ist eher verwirrend.
Sinnvoller als solch eine Ergebnisliste wäre eine Suchmaschine, die meine persönlichen Vorlieben und Abneigungen kennt. Würde ich nach Telefondienstleistern suchen, kämen dann nicht die Namen von Telefongesellschaften, sondern das Angebot eines Dienstleisters, der mir alles rund ums Telefonieren abnimmt. Dies gibt es bislang jedoch nicht. Noch immer übernehmen Gatekeeper die Auswahl relevanter Informationen. Und weil sie eine große Hilfe sind, genießen sie die Achtung der Internetnutzer.
Gatekeeper lenken Aufmerksamkeitsströme. Wenn ein Gatekeeper auf einen neuen Trend aufmerksam macht, bekommt der Trend weiteren Zulauf. Ein Unternehmen tut also gut daran, die Gatekeeper und ihre Funktion bewusst zu nutzen.
Je mehr Gatekeeper ein Unternehmen entdeckt und in sein Beziehungsgefelcht einbaut, desto breiter wird die Meeresfläche, auf der es sein Netz auswirft. Denn PreSales Marketing sucht die Meere nach potentiellen Kunden ab, hält ihnen dann eine Angel mit einem attraktiven Köder ins Wasser und wartet ab. Dazu können Gatekeeper enorm helfen. Denn wenn es darum geht, die Schleppnetze am richtigen Ort auszuwerfen, sind sie unübertroffen. Mehr noch: Sie können auch potentielle Kunden auf den leckeren Köder aufmerksam machen. – Und betreiben damit, vielleicht sogar ohne es zu wissen, ganz gezieltes Marketing!

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